Siehe also...
Nadine Gordimer, Nobel Preisträgerin für Literatur 1991
"Nils Burwitz durchschaut die menschliche Form wie ein Hellseher. Seine Beherrschung der Linie geht tiefer als das Fleisch. In seinem Werk offenbaren sich mehr als die Gesichter Afrikas; das Wesen, die Persönlichkeit und der Geist eines jeden Erdteils, in dem er gelebt und gewirkt hat. Die Schönheit der Wahrheit durchdringt sein begeisterndes Talent."
Lucie-Smith, Edward / VORWORT
In einem gewissem Sinn ist jede künstlerische Existenz ein Hochseilakt. Das schöpferische Individuum muß sein Gleichgewicht in einer Situation fortwährender Widrigkeiten halten, in der jeder Fehltritt tödlich sein kann. Das ist nur zu schaffen, wenn die Aufmerksamkeit auf einen festen Punkt gerichtet ist - das Ziel, das erreicht werden soll.
Der Unterschied zwischen echten Hochseilartisten und wahren Künstlern liegt nun darin, daß der Künstler hofft, das angestrebte Ziel nie zu erreichen. Das Spiel lohnt sich nur, wenn der Zielpunkt immer wieder in die Ferne rückt. Das gilt ganz besonders für den Lebensweg und die Persönlichkeit von Nils Burwitz. Burwitz hat nie einen sicheren oder konventionellen Weg verfolgt, weder im persönlichen noch im künstlerischen Bereich. Die unermüdlich experimentelle Natur seiner Kunst und vor allem seiner graphischen Arbeiten - die im Mittelpunkt dieser Ausstellung stehen - spiegelt sich insbesondere in den früheren Abschnitten seiner Biographie wider. Hier verflechten sich universelle mit ganz persönlichen Themen.
Lucie-Smith, Edward / MARINAS TERRASSEN
Zu den eindrucksvollsten Produktionen dieser Jahre gehört jedoch eine fortlaufende Serie von Aquarellen mit dem Titel „Marinas Terraces". Sie sind alle im gleichen Format gehalten und nehmen das Gefüge der Terrassen von Valldemossa als Ausgangspunkt. Gleichzeitig sind sie mit Randbemerkungen versehen, lange Texte in vier Sprachen - mal in deutsch, englisch, spanisch oder in katalanisch -, die alle im Burwitz-Haushalt gesprochen werden. Die Bilder drücken seine Liebe für den Ort selbst und für die Natur der umliegenden Bergwelt aus. Aber auch Ereignisse von größerer Tragweite werden miteinbezogen. Eine Zeichnung wurde zum Beispiel von den Ereignissen des 11. September 2001 angeregt. Es ist eines der ganz wenigen gelungenen Kunstwerke, die ich kenne, die von dieser Tragödie ausgelöst wurden.
Ich liebe diese Aquarelle, nicht nur wegen ihrer nahtlosen Verbindung von Wort und Bild, die mich auf eigenartige Weise an den großen englischen Malerdichter William Blake erinnert, obwohl hier kein Stilvergleich besteht, sondern weil sie völlig anspruchslos sind. Sie sind das Werk eines Mannes, der seine Begabung nutzt - in diesem Fall wäre die Mehrzahl Begabungen vielleicht treffender, da Wort und Bild beteiligt sind -, um mit der Welt, die ihn umgibt, in Einklang zu kommen, sie in sich aufzunehmen und etwas zu bewirken.
Lucie-Smith, Edward / ZEICHNUNGEN
Seine Heirat mit Marina Schwezova 1965 markierte den Beginn einer außergewöhnlich engen und glücklichen Beziehung. Marinas Schwangerschaft sowie die Geburt ihres ältesten Sohnes Vadim lenkte Burwitz' Aufmerksamkeit in eine neue Richtung - die der Mysterien des menschlichen Organismus. Aus jener Zeit stammt eine Reihe von außergewöhnlich schönen und bewegenden Skizzen, die sich mit einem Thema beschäftigen, das in der westlichen Kunst selten behandelt wird - die Geburt eines Kindes. Die Zeichnungen entstanden in London, während einer eineinhalbjährigen Stipendienreise, die Burwitz und seine Frau durch Europa führte. Sie sind von einer Frische und Spontaneität, die uns zeigen, daß Burwitz eine sehr seltene Gabe besitzt - ein völlig naturgegebenes Zeichentalent. Für ihn ist der Prozeß des Zeichnens so natürlich wie das Atmen. Zeichner dieser Kategorie sind, wie die Kunstgeschichte beweist, weitaus seltener als Künstler, die einfach gute Maler sind.
Die Brillanz seines zeichnerischen Könnens zeigt sich bei Burwitz auch in den Porträts, die er über die Jahre von seinen Freunden - Künstlerkollegen, Schriftsteller, Musiker - angefertigt hat. Mit diesen Porträts, ob gezeichnet oder gemalt, ähnelt er nicht den Brücke-Künstlern aus Dresden, sondern dem großen österreichischen Sezessionisten Oskar Kokoschka.
Lucie-Smith, Edward / BIBLIOPHILE AUSGABEN
Die vielen Jahre, seit denen Nils Burwitz nun in Mallorca lebt, sind von einer wachsenden Identifikation mit der mallorquinischen Gesellschaft sowie mit der spanischen und mallorquinischen Kultur geprägt. So hat er zum Beispiel eine kleine Mappe geschaffen, die er den unglückseligen Monaten gewidmet hat, die die französische Schriftstellerin George Sand und ihr damaliger Liebhaber, der Komponist Frédéric Chopin während des Winters 1839/40 in Valldemossa verbrachten. Robert Ranke Graves, der berühmte britische Dichter, der jahrelang im Nachbarort Deya wohnte, schrieb den Begleittext. Für Burwitz waren Graves und der in Katalonien geborene Joan Miró zwei große Heldenfiguren. Seine Freundschaft mit der Familie Miró wurde zu einem Fixstern seines Lebens auf der Insel. Eine bibliophile Edition widmet sich dem „Unsichtbaren Miró". Darin illustrieren zwanzig Radierungen Texte, die von zwanzig von Mirós Freunden und Wegbegleitern beigetragen wurden.
Lucie-Smith, Edward / KASSETTENWERKE
Dennoch sind die frühen Arbeiten von Burwitz nicht rein expressionistisch, sondern haben gleichermaßen eine surrealistische Tendenz. In einem seiner ersten herausragenden Werke als Zeichner, der Serie „Heuschrecken-Variationen" (1966), ist dies besonders deutlich zu erkennen. Diese neun Zeichnungen drücken sowohl seine Liebe zur afrikanischen Natur aus wie auch gleichzeitig sein Gefühl für deren Erbarmungslosigkeit und seine Wahrnehmung der extremen Lebensbedingungen in Afrika.
Burwitz blieb jedoch nicht nur privaten Themen verhaftet. Während seiner Jahre in Südafrika drängten sich zunehmend andere Aspekte in sein Bewusstsein, namentlich die der Lebensbedingungen vor Ort. Im Jahr 1948, zehn Jahre vor seiner Einwanderung, wurde durch den Erlaß der ersten Apartheidgesetze die Rassendiskriminierung in Südafrika staatlich verankert,Diese Ereignisse gingen an einem Mann wie Nils Burwitz nicht spurlos vorbei. Schritt für Schritt erarbeitete er eine neue Form der Kunst im Widerstand, die sich in seinen Graphiken vielfältiger offenbarte als in seinen Gemälden. Es fällt auf, daß er ein ganz neues graphisches Ausdrucksmittel fand - die Siebdrucktechnik, die er mit souveränem Geschick handhabte, und die es ihm erlaubte, auf einer zweiten Ebene photographische Dokumentationen mit einzubeziehen. Die Drucke führten die Apartheid ad absurdum - insbesondere die buchstabengetreue Auslegung der Rassengesetzte - und machten ihre Grausamkeit sichtbar. Mehrmals hat Burwitz einen komplizierten mehrschichtigen Druckprozeß angewandt, um Stellung zu beziehen. So auch bei der Serie „Gezeitenzone", die aus neun Drucken besteht und die Burwitz bei Advanced Graphics in London auflegte, als er noch in Südafrika lebte,Seine Protestbilder entstanden Ende der 60er Jahre - zu einer Zeit, als es für jedermann, ob Künstler oder Schriftsteller, am riskantesten war, seine oder ihre Stimme gegen die Apartheid zu erheben.
Das Problem politischer Kunst ist natürlich die Tendenz ihrer Vergänglichkeit, sobald die aktuellen Ereignisse in die Vergangenheit gerückt sind, obwohl es Ausnahmen von dieser Regel gibt. Beispiele dafür sind Goyas Serie „Schrecken des Krieges" und Picassos „Guernica". Ein weiteres Beispiel, auf seine Art sogar noch beredter, ist Jacques-Louis Davids „Ermordung von Marat" im Musée des Beaux Arts in Brüssel. Es ist nicht nur aufschlußreich, weil sein politischer Anspruch - daß Marat ein guter und ehrenvoller Mann war - in diesem Fall eher zweifelhaft ist. Gleichwohl bleibt es eines der berühmtesten und einflußreichsten politischen Gemälde.
Solche Werke bewähren sich aus zweierlei Gründen: Zum einen ist es ganz offensichtlich der außergewöhnliche Grad künstlerischen Geschicks, im Fall von Burwitz' „Gezeitenzone" eine neuartige Siebdrucktechnik und die subtile Einbeziehung von Photodokumenten. Zum anderen ist es ihr Engagement. Werke wie die „Gezeitenzone" sind voller Ironie und einem Schuß schwarzen Humor. Sie wurden inspiriert von echter Empörung - Empörung über Kleinlichkeiten ebenso wie über Unmenschlichkeiten. Allerdings gibt es noch einen anderen Aspekt: In den 60er und 70er Jahren war die Anwendung des Siebdrucks für künstlerische Zwecke - teils unter dem Einfluß der amerikanischen Pop Art - weit verbreitet. Jedoch gab es nur wenige Künstler, die seinen Prozeßcharakter erkannten und den Siebdruck auf neuartige Weise einsetzten, indem sie Bilder schufen, die auf keine andere Weise entstehen konnten. Andy Warhol war einer von ihnen. Burwitz, der eine ganz andere Richtung einschlug, ebenso.
In den 70er Jahren wurde seine Situation immer zweischneidiger. Nils Burwitz war mittlerweile ein gefeierter Künstler im südafrikanischen Kulturleben. 1975 erhielt er die Einladung, an der Universität von Witwatersrand zu lehren, wo er selbst studiert hatte und eine der wenigen gemäßigt liberalen Institutionen im Land. Sein drittes Kind, der zweite Sohn, wurde im selben Jahr in Johannesburg geboren. Gleichzeitig wurde sich Burwitz mehr und mehr bewußt, daß seine Lage sowohl aus politischen wie auch aus persönlichen Gründen immer unhaltbarer wurde.
1976 traf er die Entscheidung, abermals auszuwandern, diesmal in das idyllische Bergdorf Valldemossa auf der spanischen Insel Mallorca. Dieser Umzug nahm seinem politischen Engagement, das inzwischen Teil seiner künstlerischen Persönlichkeit geworden war, keineswegs die Kraft. Er trieb die Produktion seiner unvergleichlichen Siebdrucke weiter voran, oft auch mit politischen Themen. Der doppelseitige Druck „Namibia: Kopf oder Zahl", der für viele immer noch das Erkennungsbild von Burwitz ist, wurde 1979 aufgelegt. Die Idee ist äußerst einfach und extrem wirkungsvoll - die vorne und hinten bedruckte Graphik zeigt beide Seiten ein und desselben Warnschilds. Eine Seite zeigt dem Betrachter an, daß er ein verbotenes Gebiet betritt, die Rückseite ist unbeschriftet, einer Wüstenlandschaft gleich. Beide Seiten sind von Schußlöchern durchsiebt.
Andere Drucke geben beklemmende Kommentare über die Entwicklungen in Südafrika ab. Ein Beispiel ist „Ignis Fatuus" aus dem Jahr 1987. Er handelt vom Ritual der „Halskrause" in den schwarzen Vororten von Johannesburg - einer besonders grausamen Methode, mit der mutmaßliche Spitzel oder manchmal angebliche Hexen getötet wurden. Dabei wurden den Opfern die Handgelenke mit Draht hinter dem Rücken gefesselt und ein mit Benzin getränkter Reifen über ihren Nacken gestülpt und angezündet. In der entscheidenden Kraftprobe vor dem Scheitern der Apartheid wurde diese Art der Hinrichtung in zunehmendem Maß von Mitgliedern des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) vollstreckt, um Abtrünnige zu terrorisieren und die politische Solidarität unter den Schwarzen zu forcieren. Eine der führenden Unterstützerinnen dieser Lynchjustiz war Nelson Mandelas Frau Winnie. Bei diesem Druck fand Burwitz für die graphische Ausführung eine geniale technische Lösung, indem auf zwei übereinanderliegende Bögen Papier gedruckt wurde. Das obere Blatt mit einem aufgerissenen, angesengten Mittelteil enthüllt ein schmelzendes Symbol unter der lebensgroßen Frottage eines Firestone-Reifens - mit der Aufschrift „In Suidafrika vervaardig/Made in South Africa".
Es gibt auch eine kleine Siebdruckedition - übergroße Bilder auf gefaltetem Papier -, die die gegenüberliegenden Profile von Winnie und Nelson Mandela abbildet, Ehefrau und Ehemann, und das sich verschlechternde Eheverhältnis kommentiert, nachdem Mandela endlich freigelassen wurde. Das Bild, ein Nasenkuß, dem das Hochzeitsphoto der Mandelas als Vorlage diente, wurde ursprünglich während eines Besuchs im Settler's Inn in Grahamstown auf ein Bettlaken gemalt, fünf Jahre vor Nelson Mandelas Entlassung aus dem Gefängnis im Jahr 1990. Was Burwitz anschließend mit dem Bild gemacht hat, ist bezeichnend für seinen künstlerischen Scharfsinn und seine Fähigkeit, Dinge anzudeuten, ohne sie beim Namen zu nennen. Es beweist auch seine Fähigkeit, unbequeme Tatsachen aufzugreifen- ein Talent, das nur wenigen Künstlern, die sich mit der Politik einlassen, gegeben ist.
Einige der Grafiken von Burwitz setzen sich mit der Situation in Europa und insbesondere mit der Teilung Deutschlands auseinander. Der doppelseitige Siebdruck „Trompe-l'œuil/Wendekreis 1981" zeigt einen Mann, der vor dem Brandenburger Tor in Berlin steht. Auf der einen Seite des Blattes, der Ostseite des Tors, schaut er in die Kamera wie ein Tourist, der fotografiert wird. Auf der Rückseite desselben Blattes sehen wir denselben Mann, weiter entfernt, vor der Westseite des Brandenburger Tors als Reflektion im Kreis eines Verkehrsschilds mit der Warnung darunter „Nicht halten im Wendebereich!" Ein großes „X", das sich in dem Schild widerspiegelt, scheint ihn am Weiterkommen zu hindern. Als der Druck aufgelegt wurde, stand das Tor im Niemandsland auf der östlichen Seite der Mauer, sichtbar, aber unerreichbar für die Bürger West- wie Ostberlins.
Lucie-Smith, Edward / BLEIGLASFENSTER
Gleichzeitig engagiert sich Burwitz mit unglaublicher Energie auf immer neuen Feldern. In den letzten Jahren hat er sich einen besonderen Namen im Bereich der Gestaltung von Bleiglasfenstern gemacht - einem Gebiet, auf das sich sein von ihm verehrter Mentor Miró zwar ebenfalls ein- oder zweimal wagte, sich jedoch stets unterfordert fühlte. Die Leidenschaft für Licht ebenso wie die Fähigkeit, es kontrolliert einzusetzen, sind die Voraussetzung für die Gestaltung von farbigem Glas. Man kann begreifen, warum diese Herausforderung dem Temperament von Nils Burwitz entgegenkommt. Dinge zu durchleuchten - Orte, Personen, die menschliche Psychologie, politische und soziale Umstände - war jedenfalls schon immer das Thema seines Künstlerdaseins.
Pierre Restany
Die neuen Arbeiten von Nils Burwitz hinterlassen ein ungeheures Echo in Kopf und Herz des Betrachters. Die Malweise ist streng expressionistisch, die gewagte Wahl der Farben perfekt kontrolliert. Es liegt ihnen eine Spannung zu Grunde, der man sich nicht entziehen kann und die verwandt ist mit dem Effekt oder der Übersteigerung des Stils: sie mündet in metaphysische Angst, - wobei diese bei Burwitz ohne Zweifel erträglicher ist als jene, die einen beim Anblick einiger Werke von Bacon oder sogar von Baselitz überkommt.